#3 Hendrik als vermessenes Selbst

Hendrik kommt zu Hause an und öffnet die Fenster – die Abendluft ist noch mild. Er legt sich aufs Bett und scrollt wie fast jeden Abend durch Instagram und Facebook: Anika schnorchelt gerade auf den Malediven. Benny schreibt noch immer an seiner Masterarbeit. War klar. Und Adidas promotet seinen neuen Laufschuh. 

Nachdem er alle News durchgescrollt hat, wandern seine Finger beinahe automatisch zur Runtastic-App. Tatsächlich – im Newsfeed wird ihm angezeigt, dass Sonja gerade noch laufen war.

Sie macht es richtig, denkt Hendrik sich und rollt sich auf den Bauch. Zu dieser Uhrzeit hätte er auch viel mehr Lust, eine Runde zu drehen, als sich morgens direkt nach dem Aufstehen in den Park zu quälen.

Ihre Laufdaten sind wieder mal fantastisch. Kein Vergleich zu seinen. Überhaupt – er hat in den letzten Tagen wirklich nachgelassen, wenn er seine Läufe mit denen von vor zwei Wochen vergleicht: Er lief mehr Kilometer in derselben Zeit, verbrannte dadurch mehr Kalorien, seine Pace war besser und die rot gefärbten Streckenabschnitte – die seine Schnelligkeit symbolisieren – traten gehäuft auf. Bei seinem Lauf gestern ist fast die gesamte Strecke grün. Mist. 

Er hat sich auch besser gefühlt, wie ihm die Smileys verraten, die er selbst nach jedem Lauf ausgewählt hat. Von einem Fortschritt kann daher nicht die Rede sein. Auch wenn ihm die App das so schön weiß machen will mit ihrem Balkendiagramm als Icon. Sein Diagramm würde eher wieder absinken, statt steil in die Höhe zu schießen.

Grimmig schließt Hendrik die App – sie macht ihm schlechte Laune. Stattdessen öffnet er YAZIO und schaut, wie viele Kalorien er noch für sein Abendessen übrig hat. Verdammt. Wieder mal hat er vergessen, sein Wasser einzutragen. Dabei ist viel trinken doch wichtig. Und Hendrik weiß auch, dass es nichts nützt, das Wasser für einen gesamten Tag auf einmal in sich hinein zu schütten. 

Er überlegt, ob es zwei oder drei Gläser waren, die er nachmittags noch im Büro getrunken hat. Es macht ihn ein wenig wütend, dass er jetzt wegen seiner eigenen Schusseligkeit nicht mehr nachvollziehen kann, wie viel Wasser er den Tag über zu sich genommen hat. 

Aber ist das wirklich so wichtig? Eine leise Stimme meldet sich in seinem Hinterkopf.

Hendrik wischt die Gedanken an die blöden Wasser-Glas-Symbole beiseite. Er schaut sich besser an, wie viel er heute noch fürs Abendessen einplanen darf: 793 Kalorien. Hmm … Hendrik fühlt sich nicht gerade gewillt dazu, groß über sein Abendessen nachzudenken. YAZIO weiß Abhilfe: Noch Platz im Kalorienziel? Hier findest du die passenden Rezepte.

Doch nichts von den vorgeschlagenen Gerichten spricht ihn an. Oder er hat nicht alle Zutaten da. Nein, dann kocht er lieber etwas Eigenes. 

Hendrik schlürft in die Küche, checkt kurz den Kühlschrank und setzt Nudelwasser auf. Die Spirelli muss er vorher abwiegen und wenn er nicht die ganze Dose gestückelte Tomaten verwendet diese ebenso. Immerhin kann er die Lebensmittel per App über den Barcode scannen, sodass sie ihm direkt bei YAZIO angezeigt werden.

Trotzdem ist das Kochen mühselig. Jedes Stückchen Zwiebel, jedes Gramm Hackfleisch, jeder Esslöffel Öl muss angeben werden. Was früher Mamas Ratz-Fatz-Bolognese war, gleicht heute eher einem zeitintensiven Laborversuch.

Und es schmeckt nicht mal. Vor lauter Messen, Wiegen und Eintippen hat Hendrik die Gewürze vergessen. Klar, weil sie kaum Kalorien haben und somit in der App nicht angegeben werden müssen.

Er schiebt den Teller beiseite, um ihn zwei Sekunden später wieder zu sich heranzuziehen, nachzusalzen und doch aufzuessen. Immerhin hat er die Nährwerte jetzt schon eingegeben. Dann muss er sie auch essen. Sonst passen seine Angaben nicht mehr.

Und das wäre doch sehr ärgerlich.

Mit zusammengepressten Lippen und angespannten Schultern stellt er sich nach dem Essen an die Spüle und wäscht ab. Jetzt würde er gern einen Schokoriegel oder wenigstens einen dieser Protein Bars essen. Aber dann würde sein Kein-Zucker-Countdown wieder auf Null fallen. Wie dämlich, dass ihm diese Apps den ganzen Spaß nehmen. 

Doch eigentlich nimmt er sich den selbst, oder?

Niemand zwingt ihn dazu, morgens auf nüchternen Magen laufen zu gehen, akribisch jedes noch so kleine Hustenbonbon in seine Kalorienzähl-App einzutragen oder kein Gramm Zucker zu essen. Nicht die App, nicht die Entwickler, nicht der Quellcode dahinter. Nur er selbst.

Und wofür das alles?

Für seine Gesundheit, denkt er, wirft die Zahnbürste zurück in den Badezimmerschrank und wäscht sich das Gesicht.

Und die sollte es einem doch wert sein.
Oder nicht?

22 Uhr. Gerade, als er sich aufs Sofa setzt, blinkt sein Handy auf: Hol dir etwas Headspace. Natürlich, seine tägliche Meditationspraxis wartet noch auf ihn.

Er hat keine Lust. Und öffnet die App trotzdem, denn sonst würden seine hintereinander meditierten Tage wieder auf Null fallen. Er setzt sich Kopfhörer auf, positioniert seine Beine zum Schneidersitz und lässt sich von der angenehmen Stimme durch die Meditation leiten. Zehn Minuten diesmal.

Hinterher fühlt sich Hendrik tatsächlich ruhiger. Und irgendwie auch besser. Er checkt seine Meditationsdaten: 19 Minuten hat er insgesamt meditiert, drei Übungen absolviert und sich durchschnittlich 4,75 Minuten auf seinen Atem fokussiert. 

Für vier Tage klingt das ganz schön wenig. Aber sollte nicht zählen, dass er sich jetzt besser fühlt als vorher? Wobei … jetzt wo er drüber nachdenkt, spürt er schon wieder, wie sich die schlechte Laune von hinten anschleicht. Vielleicht sollte er mal auf seine ganzen Apps verzichten – nur für ein, zwei Tage und dann voller Motivation am dritten Tag wieder loslegen.

Noch einmal öffnet er Headspace. Diesmal jedoch nur, um Sonja anzustupsen und ihr eine Nachricht zu schreiben.

“Hey Buddy, habe gerade 10 Minuten meditiert. Mir geht’s viel besser. Danke für den Tipp ;-)”