#2 Hendrik als unternehmerisches Selbst

17:30 Uhr. Hendrik sitzt bereits in dem Eckcafé, das ihn immer an einen Co-Working-Space erinnert: hypermoderne Hängeleuchten, Steckdosen an jedem Sitzplatz und bodentiefe Fensterfronten. Sonja hängt noch im Büro fest – irgendetwas lief wohl bei dem Versicherungswechsel eines Kunden schief und sie darf den Fehler nun wieder glatt bügeln. 

Hendrik fischt sein Smartphone aus der Aktentasche. Gerade fiel ihm wieder ein, dass er Sonjas Läufe genauer unter die Lupe nehmen wollte. Die Runtastic-App ist spendabel: Sie zeigt Hendrik genau an, wann, wo, wie lange und mit welcher Geschwindigkeit Sonja ihre letzten Runden gedreht hat. Als sein Blick auf ihre Pace fällt, drohen ihm beide Augen rauszufallen: 04:10 Minuten pro Kilometer! Er hat noch nicht mal eine Pace von unter fünf Minuten pro Kilometer geschafft. Nicht mal nach einem ausgiebigen Frühstück und angenehmsten Laufwetter. 

Obwohl er Sonjas sportliche Erfolge bewundert, merkt er doch, wie ihn diese Zahlen auf seinem Bildschirm wurmen. Was macht er bloß falsch? Vielleicht sollte er morgens wenigstens eine Banane oder einen Müsliriegel essen, bevor er wieder zum Ostpark sprintet. Er muss besser werden. Muss einfach.

Nachdem er seine letzten Läufe mit denen anderer Freunde und Familienmitglieder auf Runtastic verglichen hat, fühlt er sich wieder besänftigt. Zwar ist er nicht der Beste, aber nah dran. Die wenigsten aus seiner Laufgruppe schaffen überhaupt die zehn Kilometer. Mit stolzem Grinsen postet er seinen Lauf auf Instagram. Die jubelnden Kommentare, die bald darauf aufploppen, zeigen ihm, dass er wirklich etwas geleistete hat. 

Doch Sonja mit ihrem Lauf war immer noch besser …Kurzerhand erhöht Hendrik sein Jahreslaufziel bei Runtastic auf 800 Kilometer. Dann muss er eben viermal in der Woche um diesen öden See traben, denkt er und trinkt einen Schluck von seinem Kaffee. Hauptsache er wird schneller. 

Während Hendrik darüber nachdenkt, ob er möglicherweise falsch trainiert, taucht Sonja plötzlich neben ihm auf. Er ist so in seine eigenen Gedanken vertieft, dass er ihr Kommen erst gar nicht bemerkt. Obwohl es mittlerweile nach 18 Uhr ist und sie gerade ein Donnerwetter eines Kunden über sich ergehen lassen musste, sieht sie wie immer erholt und erfrischt aus, als würde sie gerade aus dem Sommerurlaub zurückkommen. 

Wie macht sie das bloß? Als sie auch noch eines dieser zuckrigen Shakes bestellt, die mit Kaffee nicht mehr viel zu tun haben, und dazu genüsslich in einen Muffin mit Schokostückchen beißt, bricht es aus Hendrik heraus: “Wie machst du das, in allem so perfekt zu sein?”

Sonja zieht die Stirn kraus und tupft sich einen Krümel von der Lippe. “Wie meinst du das?”

Er mag Sonja. Er mag Sonja sogar sehr, doch er merkt auch, wie er sie immer öfter als Konkurrentin betrachtet: Beim Sport, denn ihre Laufergebnisse sind deutlich besser als seine, und auch bei der Arbeit, schließlich hat sie sich innerhalb kürzester Zeit den Platz neben dem Chef beim Mittagessen ergattert. Den hat er sonst meistens für sich beansprucht, doch seitdem er sein Mittagessen immer aus mitgebrachten Tupperdosen schaufelt, fällt der soziale Austausch mit seinen Kollegen deutlich geringer aus. 

Und jetzt verputzt Sonja auch noch dieses giftige Zeug mit all dem Zucker und Fett vor seinen Augen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass er diesen fluffigen Schokomuffin mit münzgroßen Schokostückchen und flüssigem Schokoladenkern auch gern essen würde. Doch wenn er das in seiner YAZIO-App eintragen würde, würde sich die App wahrscheinlich freiwillig von seinem Handy löschen. 

Versager, willensschwach, du tust einfach nicht genug, klingelt es unaufhörlich in Hendriks Ohren, während Sonja ihn immer noch anstarrt und auf eine Antwort wartet. 

“Alles okay bei dir?” Ihre schönen Augen sehen ihn mitleidig an. Doch Hendrik will kein Mitleid. Er will Bewunderung. 

“Weißt du eigentlich, wie viel Zucker in so einem Muffin ist?”, fragt er angriffslustig. 

Von wegen perfekt. Jemand, der den ganzen Tag von verarbeiteten Kohlenhydraten lebt, ist alles andere als perfekt. Auch wenn er neidisch auf ihr Schlemmen ist, weiß er es, zumindest was die Ernährung angeht, doch besser als seine neue Arbeitskollegin, die von Salat, Äpfeln und Dinkelvollkornnudeln wahrscheinlich genauso viel hält wie von dem Kunden, der sie gerade per Telefon angepampt hat.

“Ehrlich gesagt – nö. Warum?” Sonja wischt sich den Mund mit der Serviette ab und legt diese zerknüllt auf ihren Teller. 

Hendrik beginnt damit, ihr einen Vortrag von den Auswirkungen von zu viel Fett und Zucker auf den Körper zu halten und demonstriert ihr das Ganze anhand seiner YAZIO-App: Hätte er diesen Iced Frappé Coffee und den Double Chocolate Muffin gegessen, hätte er durch die aufgenommenen 886 Kalorien sein Tagessoll bereits erreicht. Dabei hätte er weder Abendbrot gegessen noch seinem Körper etwas Gutes getan, dafür aber 43,1 Gramm Fett in seinen Körper geschleust. 

Moment, denkt er, das ganze Fett hat jetzt Sonja in sich. Zufrieden grinsend legt er das Handy weg und blickt Sonja mit vor der Brust verschränkten Armen triumphierend an. Seine YAZIO-App würde ihm heute Abend genau das anzeigen, was sie seit Wochen jeden Abend tat: Dass er genau in seinem Soll gegessen hatte. Und die “Kein Zucker”-Challenge hat er auch nicht vergessen. Damit optimiert er sein Essverhalten nur noch mehr.

“Du spinnst doch.” Sonja scheint von seinen Ausführungen wenig begeistert zu sein. “Wo bleibt denn dann der Spaß im Alltag? Der Bürojob ist schon trocken genug, da muss ich nicht noch den ganzen Tag von Selleriestangen leben.”

Typisch, denkt Hendrik, sobald Leute von gesunder Ernährung reden, denken sie, man würde den ganzen Tag nur noch von Rohkost und eingeweichten Haferflocken leben. 

“Wie läuft es eigentlich mit deiner Meditationspraxis?”, fragt Sonja, um vom Thema abzulenken. Das kommt ihm nur recht. Er entsperrt sein Handy und zeigt ihr die farbigen Medaillen in seiner Headspace-App, die symbolisieren, dass er bereits an drei aufeinanderfolgenden Tagen meditiert hat: Seit Freitag. Seitdem Sonja ihm diese App gezeigt hat.

“Sehr gut, hilft es dir?”, fragt sie mit Blick auf seinen Handy-Bildschirm.
“Ich fühle mich schon etwas entspannter. Aber eigentlich hätte ich mir mehr erhofft.”
“Wie lange meditierst du denn?”
“Drei Minuten für den Anfang.”
“Dann erhöh doch mal auf fünf. Ich habe direkt mit zehn angefangen und der Unterschied ist wirklich spürbar.”

Hendrik hält die Luft an. Es ärgert ihn ein wenig, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen ist, direkt bei zehn Minuten einzusteigen. “Gib mir eine Woche, dann gebe ich dir ein Update”, sagt er und lässt das Smartphone in seiner Tasche verschwinden.

Auf dem Weg nach Hause kontrolliert er Sonjas Meditationsverhalten ebenfalls in seiner App. Bis jetzt hat er nur sie als Buddy, wie die Freunde bei Headspace bezeichnet werden. Drei Stunden hat sie bis jetzt insgesamt meditiert und durchschnittlich sieben Minuten.

Grinsend steckt er das Handy wieder ein. Das ist nicht viel. Locker würde er Sonja in nächster Zeit überholen.